Die kleinen Hände platschen unentwegt in das kalte Wasser, glucksend blickt das Mädchen zu ihrer Großmutter auf der Bank nebendran und spielt weiter mit dem kühlen Nass. Szenen wie diese, sind in den warmen Monaten täglich einige Male am oberen Ende des Lebzelterberges zu sehen. Der Trachtenbrunnen wirkt wie ein Magnet auf die Menschen und ist gleichzeitig eine Ruheinsel inmitten der belebten Miesbacher Innenstadt. Genau das hätte der Schöpferin des Brunnens gut gefallen – ein Portrait über die Bildhauerin Ursula Kemser-Diess.
Selten nach Skizze
Wenn ihre beiden Kinder über sie sprechen, erhält man eine Ahnung davon, wie die Irschenberger Bildhauerin Ursula Kemser-Diess zu Lebzeiten war und vor allem, wie sie arbeitete und was sie inspirierte. „Sie war eine begnadete Bildhauerin“, sagt Johannes Kemser voller Bewunderung. Er und seine Geschwister erinnern sich sehr genau daran, wie ihre Mutter in ihren unterschiedlichen Ateliers und Werkstätten an ihren Kunstwerken gearbeitet hat. „Sie fertigte zunächst immer Gestelle aus Draht an und formte dann mit ihren bloßen Händen aus Ton oder Gips die Figuren“, erzählt eine der beiden Töchter, Angelika Kemser-Schmid. Dabei arbeitete die gebürtige Münchnerin selten nach einer Skizze, sondern immer ihrer Intuition und Erinnerung folgend. „Ihr Blick für Menschen war einmalig, sie hat die Leute immer aus ihrem Gefühl heraus nachmodelliert“, sagt Kemser-Schmid, die selbst als Künstlerin in ihrer Keramikwerkstatt tätig ist.
Inspirationsquellen
So war es auch mit der Figur für den Trachtenbrunnen am Lebzelterberg, der im Rahmen der Altstadtsanierung im Jahr 1986 aufgestellt wurde. Die Irschenberger Bildhauerin fertigte dafür eine Bronzestatue an, welche eine Frau im Miesbacher Kirchengewand zeigt. Die Frau ist völlig in sich gekehrt, wirkt schon fast verschlossen auf ihrem Kirchgang. Die Figur inmitten des zierlichen Steinbrunnens soll daran erinnern, dass Miesbach die „Wiege der Trachtenbewegung“ ist, wie es in der Chronik der Kreisstadt heißt. „Die Frauen in ihren schönen Trachtengewändern, das hat die Mutter immer fasziniert“, erinnert sich die Tochter der Künstlerin. Der Mensch an sich war immer Grundthema ihrer Arbeit, wie Kemser-Diess in einem von ihr selbst verfassten Steckbrief schrieb. „Bavarica, Religion, Portraits, menschliche Beziehungen und Zeitgeschehen“, heißt es in dem Schriftstück, seien immer ihre Inspirationsquelle gewesen. Sobald sie einen Menschen sah, welcher für sie interessant erschien, fertigte die Bildhauerin ein neues Kunstwerk mit dessen Antlitz an. „Sie sagte immer `Mei den muss ich machen´“, erinnert sich ihre Tochter schmunzelnd.
Rückhalt in der Familie
Die Gabe, Menschen wirklich zu sehen, habe sie von ihrem Vater geerbt, meint ihr Sohn. Ursula kam in einem nicht unbedeutenden Haushalt zur Welt, denn sie wurde als Tochter des bayerischen Erzählers und Autors Wilhelm Diess und der Geigerin und Malerin Elisabeth Diess im Jahr 1922 geboren. Schon früh erkannten die Eltern das Talent ihrer Tochter und wurden darin auch von einigen prominenten Besuchern in ihrem Haus bestärkt. „Im Garten der Großeltern stand die erste Bronzefigur eines balinesischen Mädchens von ihr“, erzählt er. Niemand geringerer als der Kiem Pauli bewunderte das Werk der erst 15-jährigen Ursula und so unterstützten ihre Eltern sie dabei, als sie nach ihrem Schulabschluss 1938 eine private Bildhauerlehre bei Wilhelm Orth in München begann. Nebenbei besuchte sie noch die Berufsschule für Steinbildhauer und Stuckateure. Doch der Ausbruch des zweiten Weltkrieges sollte ihre Ausbildung jäh unterbrechen und selbst als sie zwei Jahre später an der Akademie der Bildenden Künste in München, bei ihrem Mentor Josef Wackerle, studieren wollte, wurden ihr weiterhin politische Steine in den Weg gelegt. Denn als Enkelin eines jüdischen Großvaters, stieß Kemser-Diess auf einige Hürden. Doch von ihrer Berufung ließ sie sich nie abbringen und so entschloss sie sich, nach der Zerstörung der Akademie durch einen Bombenangriff im Jahr 1942, die Schnitzschule in Garmisch-Partenkirchen zu besuchen.
Dieser Ortswechsel sollte ihr gesamtes Leben verändern. Denn in ihrer neuen Heimat lernte sie nicht nur die Schnitzkunst, sondern auch ihren späteren Ehemann Hans Kemser kennen und sie bekamen drei Kinder – Barbara, Johannes und Angelika. Doch nur zwei Jahre nach der Geburt der jüngsten Tochter, verstarb Ursulas geliebter Vater Wilhelm Diess und nur ein Jahr später ihr Mann - mit nur 46 Jahren - an einem Herzinfarkt. Zwei Schicksalsschläge, welche die starke Frau dazu zwangen, zu ihrer Mutter nach München zu ziehen und ihre künstlerische Arbeit zunächst zurück zu stellen. Bis 1978 arbeitete sie als Sekretärin, um die Familie zu versorgen. Erst als die Kinder alt genug waren, fand sie wieder die Zeit und Kraft als freischaffende Bildhauerin zu arbeiten. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1980 zog es Ursula Kemser-Diess dann nach Irschenberg, wo sie ihre neue Heimat fand.
Einzigartige Künstlerin
„Was sie beschäftigte, hat sie dargestellt“, sagen ihre Kinder. Dabei brauchte sie nie lange für ein neues Werk. War der Gedanke erst einmal in Form gebracht, befasste sie sich bereits mit einem neuen. „Sie hat immer etwas Einzigartiges mit reingebracht“, erklärt Angelika Kemser-Schmid stolz. Viele Jahre arbeitete sie gemeinsam mit ihrer Mutter an der Fertigstellung ihrer keramischen Werke. Neben Adelsdamen und Prominenten aus dem gesamten Land, waren auch die Menschen aus dem Landkreis Miesbach große Fans ihrer Werke. Auch außerhalb ihres unmittelbaren Wirkungskreises schuf sie, etwa für das Albert-Schweitzer-Familienwerk mit seinen Kinderdörfern in Niedersachsen, eine Familienskulptur mit Kindern, Eltern und Großeltern, die dort in Bronze vor einer Einrichtung zu besichtigen ist. Eines lag der Künstlerin immer besonders am Herzen – Kinder und das Thema Jung und Alt. „Sie liebte es einfach Kinder zu modellieren. Sie sagte immer, Kinderköpfe seien schöner als die von Erwachsenen, denn die hätten wenigstens einen Hinterkopf“, erinnern sich Johannes Kemser und Angelika Kemser-Schmid. Ebenso war sie aber auch immer von älteren Menschen und ihren individuellen Erfahrungen, die sich im Gesichtsausdruck und in der Körperhaltung widerspiegeln, fasziniert. Im Jahr 2004 verstarb die einzigartige Bildhauerin und fand auf dem Friedhof Irschenberg ihre letzte Ruhe. Vielleicht ist es ihre Liebe zu den Menschen und die Aura die der Ort ausstrahlt, welche die kleinen und großen Besucher immer wieder zum Trachtenbrunnen am Lebzelterberg in Miesbach zieht – Ursula Kemser-Diess würde das bestimmt freuen.